EY! Warum guckst Du so fröhlich!!?
Ich habe mal mitgezählt. Heute alleine waren es 21 Menschen, mit denen ich mehr als hallo und tschüss sprach. Dazu kamen 8 Chats mit Fans und Kunden auf Facebook und ein Whats-App-Dialog mit meiner Schwester. Und bis auf vier dieser - ich nennen sie mal - zwischenmenschlichen Interaktionen... waren alle... wie soll ich sagen... sehr traurig. Also, fast der Blues. Und das ist doch auffällig, oder? Sei mal ehrlich zu Dir. Hört und sieht ja jetzt keiner. Wie häufig hast Du heute über Probleme, Schwierigkeiten, die Schwierigkeiten anderer oder den Rheinischen Frühling geredet? Ganz wirklich? Da war vermutlich häufig der Blues dabei. Hier die arme Schwiegermutter, die im Krankenhaus liegt, dort der blöde Arbeitskollege, der seine stinkenden Füße immer unter dem Schreibtisch auspackt, hier die gestiegenen Preise für Deine Lieblingslimonade, dort der Stress mit der Bank oder den Steuern. Offenbar reden Menschen da draußen gerne über die bluesigen Sachen im Leben. Manchmal scheint es mir so, als singt die ganze Welt einen einzigen, traurigen, molligen, fenderlastigen (das war jetzt einer für die Gitarristen) Blues. Hast Du das auch schon mal so wahr genommen?
Und jetzt mal Schluss. Nehmen wir zum Beispiel die äußeren Faktoren:
Draußen wird es Frühling. Im Rheinland merken wir Menschen das daran,
dass der kraftvolle Profi-Regen in Niesel übergeht und
die ganz hartgesottenen Ziergartenpflanzen sich stramm bemühen,
trotzig zwei drei Knospen raus zu hauen. Ja, er ist spürbar. Der
Frühling. Das wäre schon mal ein Grund zum Frohlocken. Dann ist
heute Donnerstag! Donnerstag bedeutet: Bald ist Wochenende. Nur noch
der rammdösige Freitag und dann... Füße hoch und den sich aufdrängenden
rheinländischen Frühling von der Couch aus und mit
vibrierender Ölheizung genießen! Ich finde, so eine
Vorfrühlingsstimmung trägt hin zu einer Menge guter Laune.
Und ich hatte für heute einen tollen Tag geplant. Heute morgen -
Zahnarzt, Fäden ziehen nach einem Eingriff letzte Woche. Der
Blues-Gitarrist in Dir könnte sich jetzt zu Wort melden und Dir
zurufen: "Moment mal, Zahnarzt ist jetzt nicht gerade die beste
Option, um besonders fröhlich zu sein."
Ja stimmt, vor allem nicht für eine Teleshoppingmoderatorin, die
sich bis vor Kurzem noch nächtelang auf einen solchen Besuch
"einstimmte" in dem sie vor Angst nicht schlief. Ich bin sogar einmal
MIT dem LÄTZCHEN aus der Praxis ins Auto geflohen, um einige Minuten
später einen Anruf von der Praxis zu erhalten, dass sie das
Silberkettchen, mit dem der Latz befestigt wird, gerne wieder
hätten. Im Gegenzuge dürfe ich den Latz behalten. Kein Witz. So
geschehen im Juli 2003. Das hat sich Gott sei's gelobet und gepfiffen
unterdessen kraftvoll verändert. "Gut" wird der
Blues-Gitarrist in Dir einwerfen, "mag sein, dass da keine Angst
mehr im Spiel ist. Und Fadenziehen beim Zahnarzt ist schlicht nicht
fröhlich." Stimmt auch schon wieder. Außer, ich bin total
erleichtert, dass es nur noch das Fadenziehen ist. Denn alles, was
letzte Woche um meinen Sechser oben links geschah, setzt Fädenziehen
ungefähr in die Kategorie Weihnachtsgeschenk. Also - tutto
bene. Und in meiner Welt dürfte sich jeder Zahnarzt glücklich
schätzen, wenn eine Patientin mit einer solch heldengleichen, inneren
Haltung zum Fädenziehen erscheint.
Meine Zahnärztin, eine tolle Frau mit sicherem Blick und schnellem
Heidemann ( das ist dieses Kratzdingens aus Metall mit den beiden
Frickel-Enden), belehrte mich eines Besseren. Traurig, beinahe
ein bisschen wehmütig, bemerkte sie meine stabil auf "Fadenziehen
ist ein Klacks" gefixte Laune und meinte: "Das ist schon eine
Seltenheit, dass eine Patientin so fröhlich hier sitzt." Ich
schaute ungläubig drein und sie trauerte weiter: "Vielleicht liegt
das auch an mir. Ich verkünde eben auch sehr schlechte
Nachrichten."(Innerlich begann ich zu beten, dass sie diese Angewohnheit
bei mir nicht umsetzen wollen würden möchte.) Ungerührt dessen, dass
sie mich deutlich in Gefahr brachte, Fadenziehen doch in die Kategorie
"vielleicht nicht so witzig" down zu graden, trauerte
sie weiter: "Und es ist auch echt schwer, Frau Deforth, wissen Sie,
die meisten Patienten kommen ja hier rein und haben Angst oder Schmerzen
oder Sorgen."
Harter Tobak für eine ehemalige Hysteriepatientin. Ich nahm allen
Mut zusammen und sagte, dass ich echt froh bin, eine solch sensible
Zahnärztin zu haben, die meinen von mir selbst erzeugten,
inneren Frühling bemerkt. Und dann legte sie endlich los. Schon beim
ersten Arbeitsschritt räusperte sie sich und warf ihrer Assistentin
vielsagende Blicke zu. Diese guckte so, als hätte sich
eine Art eingepasstes Vakuum in diesem Augenblick durch ihr gesamtes
Stammhirn gewalzt. Der Zahnärztin blieb also, mit der Assistentin über
meinen Kopf hinweg zu reden. Blicke hatten zu nichts
geführt. Und es war so süß. Meine Zahnärztin gab sich eine
Riesenmühe, sehr fröhlich zu klingen. "Wie haben eine gute Nachricht!"
lachte sie übertrieben über mich hinweg.
"Wir können die Fäden jetzt heraus ziehen!"
"Und?" meldete sich MEIN Stammhirn. "Wie geht der Satz weiter?"
"Uuuuund??" setzte Frau Dr. Fröhlich fort, "da ist noch eine
KLITZEKLEINE... Entzündlichkeit... sehr weit oben im... Kiefer.
Nichtswirklichdramatisches."
Kurz und knapp:
Aus dem zehnminütigen Fädenziehen sollte eine Stunde Kiefernachsorge werden mit lokalem Ausschalter via Injektionen und dem vollen Programm. Und ich war immer noch nicht ganz weg von: DAS HIER WIRD EIN TOLLER TAG! Ja, ich bin da mittlerweile zäh.
Deshalb habe ich während der gesamten Behandlungszeit gesungen. So,
wie das eben mit weit offenem Mund geht. Es geht ganz gut. Toll war, als
die Assistentin anfing, die Lieder zu raten, die ich
gurgelte. "Oh, das war eben Biene Maja!" Ich liebe solche Momente.
Ganz ehrlich. Erstens war ich vollständig abgelenkt von Frau Dr.
Fröhlich und ihrem Heidemann, zweitens machten die Assistentin
und ich ein Quiz draus. Ich gurgelte, die medizinische Dame riet.
Dann wechselte ich den Song und das so lange, bis sie den nächsten Hit
(meistens aus Kinder-TV-Serien meiner frühen Jugend und
Kindheit) erkannt hatte. Wir wurden immer besser. Die Assistentin
und ich. Ich lernte mehr und mehr in extrem angespannter
Gaumen-Kehlkopflage präzise zu intonieren, sie schwang sich immer
deutlicher auf "TV-Serien der späten 70er und frühen 80er Jahre"
ein. Das ist übrigens kein Schmu. Genau so geschehen, heute, 10:30 Uhr,
Düsseldorf-Oberbilk. Und am Ende haben wir drei uns nach
überstandener Behandlung lachend in den Armen gelegen und uns
verabschiedet. Und ich bin mit meiner Zahnärztin per Sie! Wir kennen uns
privat kein bisschen. Aus Blues mach lustiges Liederraten -
in diesem Fall eine passende Maßnahme. Und ich habe keine Ahnung, ob
ich den unter einer Wurzelbehandlung auch bringen könnte.
WILL ICH AUCH
GAR NICHT WISSEN.
Warum schreibe ich das? Es war EIN Beispiel heute, an dem
Situationen mit traurigen Mitteilungen starteten. es gab da noch ein
paar mehr. Meine Reinemachefrau hat gerade eine Sohn, der nicht
gerne zur Schule geht. Mein Vermieter hat eine kranke Frau. Meine
Freundin hat ihr Auto beim Ausparken mit einem roten Golf gepaart und
meine Katze hat sich heute auf den Schlafzimmerteppich
erbrochen . Natürlich. Auf keinen Fall auf die Fliesen daneben. Dann
wäre sie nämlich keine Katze, sondern ein Hund. Eine Katze, die den
Blues singt, erbricht sich auf den Teppich. Katzeninhaber
werden mir da Recht geben (das ist nebenbei eine Hommage an einen
der besten Coaches Deutschlands und seine Liebe für Katzen...). Und
witzig: Nachdem all diese Menschen (und Katzen) mir ihre
Traurigkeit quasi vor die Füße geschüttet hatten und sie mich
fragten: "Und wie geht es Dir so?" und ich antwortete: "Hervorragend!"
erntete ich meist zunächst ratloses Schweigen. Und dann kamen
deutlich witzige Reaktionen. Meine Freundin zum Beispiel fragte mich
allen Ernstes: "Warum?"
Oder meine Reinemachefrau (eine phantastische Blues-Sängerin, by the
way), die in schönstem rheinländisch kommentierte: "Na, dat is ja auch
etwas übertrieben, woll?"
Offenbar, dachte ich mir, sind viele Menschen es deutlich gewohnt,
dass es irgendwie bei jedem Probleme gibt. Und diese Menschen atmen fast
auf, wenn ihnen diese Probleme ein Gesprächsthema
liefern. Und wenn eine Teleshopping-Moderatorin behauptet, es gehe
ihr hervorragend, dann ist das grundverdächtig. Und wenn sie das häufig
behauptet, ist das sogar äußerst verdächtig. Und
überhaupt, über was soll denn dann weiter geredet werden, wenn alles
bestens ist...??
Na, zum Beispiel über Pläne am Wochenende, oder den nahenden
Frühling und seine deutlichen Vorzeichen, oder über ein neues, veganes
Pfannkuchenrezept oder die Beautynight bei QVC oder den
nächsten Zahnarzttermin, diesmal mit Schlager-Raten aus dem Ressort:
"European Vision Song Contest." Es gibt so viel entspanntes, schönes,
über das es sich auch mal zu reden lohnt.
Hey, versteh mich nicht falsch. Wenn etwas trauriges passiert,
schreib und sing den Blues. Und vielleicht nur drei Strophen, statt
fünfundzwanzig. Denn bei Strophe dreiundzwanzig über die
kotzende Katze hab ich mich vielleicht selbst in die Übelkeit
gesungen. Das wäre aus meiner Sicht vermeidenswert. Und vielleicht
gelingt es Dir ja sogar, den einen oder anderen traurigen Menschen
in Deinem Umfeld mit Deiner Fröhlichkeit vor einem Zahnarztbesuch zu
überraschen. Oder zum Lachen zu bringen. Und generell: Jeder fröhliche
Tag ist ein sehr wertvoller Tag, wie ich finde. Und oft
ist Fröhlichkeit sogar ansteckend. Das darfst Du gerne hin und
wieder einmal ausprobieren.
Und da ich Fröhlichkeit sehr liebe, singe ich deutlich lieber und
zum Aufstehen bereits eine "Up-Tempo"-Nummer (die Blues Gitarristen
wissen vielleicht sogar, was das ist) und starte mit der
Hoffnung in meinen Tag, dass da draußen immer mehr Menschen den
festen Vorsatz haben, sich einen fröhlichen Tag zu machen. Zunehmend.
Ja, das passt zum nahenden Frühling.
Bis zum nächsten Mal!
Miri