Gedankenlesen für Anfänger oder: Der große Persönlichkeitstest
Ich bin ein "Wissenschaftlicher Typ"
Hä?
Das würdest Du, lieber Leser jetzt zurecht denken. Denn wenn Du regelmäßig meinen Blog liest und unseren Podcast hörst, dann dürfte Dir eines aufgefallen sein: Besonders wissenschaftlich geht es in meinem Leben bisher nicht zu.
Klar interessiere ich mich sehr für neueste Studien in unserem Schaffensfeld, der Neurokommunikation und der Kommunikation an sich. Ich lese auch entsprechende Fachartikel. Was ich dann sofort mache, ist sie in "normaldeutsch" zu transzendieren und für mich und unsere Kunden greifbarer und verstehbarer zu gestalten.
Der Test deklarierte übrigens noch viele andere Stärken meiner Persönlichkeit, dauerte 1,5 Stunden beim Ausfüllen und ich erhielt 54 Seiten über mich mit vielen Statistiken, einer Menge Text auf englisch und gefühlt einer Grafik pro Seite, die mir bestimmte kommunikative Motivatoren für mein Handeln verdeutlichen sollten. Die große Ausfragung war grundsätzlich sehr positiv formuliert. Sie war angeblich nach bekannten, wissenschaftlichen Studien konzipiert und nahm ausserdem einen Abgleich mit Millionen von Daten anderer Menschen vor.
Klang also seriös und lohnenswert.
Und nachdem ich auf zehn Seiten immer wieder gelesen hatte, dass eine meiner bemerkenswertesten Stärken "das Lernen um des Lernens Willen" und das "wissenschaftliche Erfahren" meiner Begeisterungsfelder sei - da war ich kurz davor bei meiner ehemaligen Uni anzurufen und um eine Doktorandenstelle zu bitten. Das hatte ich bei meinem Studienabschluss damals nicht gemacht.
Warum?
Weil ich meine Zeit des Studierens als recht langweilig und zäh empfand und mich an der Uni nie richtig wohl fühlte. Ja, ich habe das Studium durchgezogen. Und ich war sehr froh, als es vorbei war.
Und nach dem Test möchte ich plötzlich eine Doktorarbeit schreiben?
Mein wunderbarer Lebensgefährte und sehr schlauer Partner Florian fiel spontan vor Lachen vom Bürostuhl, als ich ihm (stolz) mein Ergebnis präsentierte.
Der Barnum Effekt
Nun, dann bitte.
Werden wir doch einmal wissenschaftlich.
Das, was mir in diesem Persönlichkeitstest widerfuhr, nennt der fröhliche Psychologe "Barnum-Effekt". Benannt ist dieser Effekt nach Phineas Taylor Barnum, der in Amerika ein großes Kuriositätenkabinett unterhielt. Sein Leitsatz lautete: "A little something for everybody" - übersetzt: "Für jeden etwas dabei."
Der Effekt, um den es geht, hat etwas mit unserer Gabe zu tun, recht allgemeine Aussagen auf uns ganz persönlich zu beziehen und zu glauben, dass sie sehr exakt auf uns zutreffen.
"Der US-amerikanische Psychologe Bertram R. Forer beschreibt ein 1948 durchgeführtes Experiment, in dem er seine Studenten einen angeblichen Persönlichkeitstest absolvieren ließ.
Anschließend händigte er jedem als Auswertung des Tests eine persönliche Charakterbeschreibung aus und forderte sie dazu auf, den Wahrheitsgehalt dieser Auswertung auf einer Skala von 0 bis 5 zu bewerten. Der Durchschnitt lag bei 4,26 Punkten, die Auswertung wurde also mehrheitlich als zutreffend gewertet. Tatsächlich hatte Forer allen Teilnehmern exakt denselben Text als „Ergebnis“ ausgehändigt – und dieser hatte nichts mit dem vorangehenden Test zu tun, sondern war zuvor aus Texten eines am Kiosk erhältlichen Horoskops zusammengestellt worden. Seither wurde der Test – mit dem gleichen Text – oft wiederholt. Der Durchschnittswert lag dabei stets um 4 - durch viele Jahrzehnte hindurch." *)
Vielleicht kennst Du das Phänomen auch persönlich schon. Beim Lesen eines Horoskops, bei der "Weissagung" über Tarotkarten oder dem Ausfüllen eines Persönlichkeits-Tests in einer eingängigen Lifestyle Zeitschrift - manchmal hat der Kauderwelsch, der am Ende herauskam erstaunlich gut zu Dir gepasst.
Schublade auf, Persönlichkeit rein, Schublade zu!
Was glaubst Du, warum es in Deutschland im Vertriebswesen immer noch "rote, blaue, gelbe und grüne" Kunden gibt? Und warum manch ein Trainerkollege seine Klienten in Scharen zu "Ameisen, Walfischen, Eulen und Superstars" erklärt?
Ja, unser Gehirn liebt Strukturen. Wie viel einfacher ist es, wenn wir als Verkäufer wissen: Aha, das ist ein "roter" Kunde, also verhalte ich mich devot, liefere pragmatische Vorteile und spreche hauptsächlich über den Status Quo, der sich durch den Erwerb des Produkts fühlbar erhöht.
Hm.
Und wenn Herr "Rot" dann trotzdem nicht kauft?
Manchen Menschen mag ein solches Schubladendenken am Anfang helfen. Es komplett zu verteufeln, wäre unfair.
Denn wer von sich glaubt, eine Ameise zu sein, entwickelt im besten Fall ja Energie, um wenigstens zum Regenwurm zu werden. Oder zum Engerling. Und wer die Skills eines Superstars bei sich findet, kann nicht mehr weiter "aufsteigen" und zumindest aus einer sehr erhabenen Position auf all die armen Ameisen blicken, die mit Müh und Last ihr Leben verdingen. Seufz.
Okay, ich stimme also zu: Eine solche Struktur kann in Miri's Welt auch ein wenig motivierend sein. Ein wenig.
Ein sehr unsicherer Verkäufer, der nicht genau weiß, wie er mit Kunden kommunizieren sollte, kann sich auf die Krücken eines roten, gelben oder grünen Kundenprofils stützen und kommt vielleicht wenigstens in den Verkaufsdialog. Das ist ja schon mal was.
Ob ein nicht kommunikativer Mensch überhaupt als one-on-one Verkäufer arbeiten sollte, ist eine andere Frage und die möchte ich hier besser nicht stellen.
"Menschen lesen" - ganz einfach gemacht
Manche Mentalzauberer nutzen den Barnum-Effekt übrigens für ihre Shows. Ein sehr professionelles Beispiel dafür ist Derren Brown. Der ehemalige NLP Trainer und sehr bekannte Magier in England baute Teile des "Profilings" (eine Technik der Kriminalpolizei zum Ermitteln eines psychologischen Täterprofils), den Analysen von Körpersprache und einige kommunikative Anteile aus den Formaten des NLP zu einer sehr schnellen Art zusammen, Menschen "auszuhorchen", ohne dass sie auch nur eine Spur davon mitbekommen.
Denn jeder von uns verrät einem sehr aufmerksamen Beobachter bereits eine Menge durch Bewegung, Kleidung, Körperhaltung, Gesichtsausdruck und Klang der Stimme. Das daraus resultierende, sogenannte "cold reading" ist keine Magie, das ist einfach sehr präzise, geschulte Micro-Beobachtung von Deinem Gegenüber.
Dies ist sogar trainierbar.
Derren Brown ist meisterlich darin aufgestellt.
Eine Kostprobe seiner Art, Menschen mit seinen "telepathischen Fähigkeiten" über die Maßen zu überraschen, findest Du hier:
https://www.youtube.com/watch?v=Ikk2DlEKQCw
Wer von unseren Lesern schon sehr erfahren in präziser Sprachführung ist oder sogar schon NLP Practitioner, dem empfehle ich auch ein Stündchen Astro-TV zur besten Sendezeit. Hier lässt sich die Barnum-Lesung sehr gut analysieren. Den Live-Anrufern in den Sendungen wird binnen Sekunden eine Voraussage für ihr Leben gemacht. Die meisten Anrufer zeigen sich sehr einverstanden mit dem Ergebnis. Und vermutlich treffen die erfahrenen Astro-TV-Astrologen auch wirklich viele Echtheiten ihrer Anrufer. Die meisten davon haben eine so unsichere und traurige Stimme, dass ihre Themen oft selbst von mir erratbar wären.
Derren Brown wiederum nutzt die Verblüffung seiner "Opfer", um ihnen noch ein paar wunderschöne, motivierende Zukunftsanweisungen zu stiften, bei denen er sich deutlich dem "Barnum-Effekt" bedient. Da die gerade analysierten Menschen aufgrund seiner großen Präzision im "cold reading" noch völlig überwältigt sind, nehmen sie Tipps von ihm sofort und gerne an. Schließlich scheint dieser Mensch wirklich über sehr besondere Fähigkeiten zu verfügen:
"Und wegen Deiner tollen Charaktereigenschaften beeindruckst Du Dich demnächst selbst, wie schnell Du Deine Träume und Visionen in die Tat umsetzt" wird dann zu einer sehr persönliche Botschaft und motiviert das "Opfer" dazu, sein Leben noch schöner zu gestalten, als bisher.
Und wenn Du Dir den eben von mir geschriebenen Satz ansiehst, dann merkst Du schon, dass er gut und gerne für uns alle gelten könnte - vorausgesetzt, wir glauben daran, dass wir über gute Charaktereigenschaften verfügen. ;-)
Letztlich könnten wir sagen: Dann ist das ganze doch eine gute Tat. Und die Menschen, die Derren "gelesen" hat, sind in Wahrheit gar keine Opfer, sondern nehmen eine wunderschöne Message aus dieser Erfahrung mit nach Hause. Sie sind auf die Gewinnerseite gehüpft. Weil sie sich haben "verzaubern" lassen.
Persönlich in Stein gemeißelt?
Was also geschah nun mit mir, nachdem ich diesen sehr ausführlichen Test ausgefüllt und überstanden hatte?
Ich fand die Idee, dass ich meine wissenschaftliche Seite bis jetzt beinahe sträflich vernachlässigt hatte, plötzlich sehr sinnstiftend.
Ein guter Freund von uns, der gleichzeitig mein Manager ist, ist
schon seit Monaten an mir dran: Wir sollten aus Deiner
Universitätskarriere noch ein bisschen was rausholen.
Na bitte!
Jetzt hatte ich es schwarz auf weiß: Meine Persönlichkeit schreit geradezu nach einer Doktorarbeit.
Nach dem ersten Durchatmen plante ich also, am darauffolgenden Morgen in der Uni anzurufen, und dem Dekanat einen Antrag zu machen.
In der Nacht schlief ich unruhig.
Ich erinnerte mich im Traum an miefige, heruntergekommene Seminarräume, überfüllte Hörsäle und schlechte, technische Ausstattungen.
Ich erinnerte mich an das schier endlose Recherchieren für meine Magisterarbeit und die Zwischenprüfung in Psychologie, die einen großen, mathematischen Anteil hatte und die ich mit Ach und Krach bestanden hatte.
Irgendetwas an dieser Aussage, so sehr sie mir als NLP Trainerin auch schmeichelt, passte nicht zu meiner Lebensweise.
War sie in Stein gemeißelt?
War mein Job jetzt, mir einzugestehen, dass ich mich selbst bislang einfach falsch eingeschätzt hatte und nun in den sauren Apfel beißen und in die Forschung gehen sollte?
Florian hatte (wie immer) den schlauesten Gedanken dazu. Er sagte, ich solle in den vielen Texten meines Testes einfach mal den Namen meiner besten Freundin einsetzen und ihn so lesen.
Und ja. Zähneknirschend gab ich schon nach vier Seiten zu: Auch auf ihren (ganz anderen) Lebensstil lies er sich anwenden.
1,5 Stunden Lebenszeit in einen Test versenkt. Weitere zwei Stunden für's Übersetzen und verstehen... Menno. Alles für die Katz?
Oh nein - ganz und gar nicht.
Denn lustigerweise und bei genauerem Hinsehen, hatte ich sowieso schon jede Menge wissenschaftlicher Arbeit geleistet. In dem ich 54 Seiten statistisches, englisches Material übersetzt, verstanden und vortragsfähig gemacht hatte, war ich extrem wissenschaftlich vorgegangen.
Ich KANN also wissenschaftlich arbeiten. Gelernt habe ich es in der Uni - vor 30 Trilliarden Jahren. Und heute bin ich seeeehr wissenschaftlich am Start, wenn mir ein Thema vorliegt, das ich spannend finde. Dann nämlich finde ich Literatur und Dokumentationsmaterial dazu und lese und werte aus und mache meinen eigenen Kladderadingens daraus.
Bei dem Persönlichkeitstest ging es um ein für mich SEHR SPANNENDES Thema. Es ging um mich. ;-)
Und erwiesenermaßen finden Menschen sich selbst immer spannend - auf irgendeine Weise. Und viele legen großen Wert auf eine positive Beurteilung von außen.
Ein aufwändiger Test der Art, wie ich ihn ausfüllte, rennt also im wahrsten Sinne des Wortes offene Türen ein.
Wissenschaftlich erprobte Auswertungsmethode, Abgleich mit über eine Million Persönlichkeitsprofilen... das ist überzeugender Stoff für den Barnum-Effekt.
Wozu dieser Artikel?
Das könntest Du Dich jetzt fragen - lieber Leser.
Zum einen war es mir wichtig, auf einige Schubladenkategorien aufmerksam zu machen, die wir Menschen vielleicht besser nicht als Aufbewahrungsort wählen sollten. Denn eine Persönlichkeit kann sich verändern.
Wir alle sind im Stande uns stets weiter zu entwickeln. Das kann uns ab und an an unsere vermeintlichen Grenzen führen - und gelegentlich vielleicht weit darüber hinaus. Denn wer von uns verhält sich schon jeden Tag exakt gleich? Und wer von uns hat nicht mehrere spannende Seiten?
Diese Freiheit, nämlich durch neue Erfahrungen und durch neues Lernen neue Fähigkeiten und Verhaltensweisen zu entwickeln, ist eine der Kostbarsten und Du darfst sie Dir immer bewahren und sie schützen.
Auf der anderen Seite ist der Impuls großartig, genau diese "persönlichen Muster" einmal wieder zu überdenken und daraus ein Profil zu bauen, mit dem Du wirklich glücklich bist.
Wie möchtest Du gerne sein?
Mit dieser Frage beende ich heute meinen Blogpost und wünsche Dir viel Spaß beim Weiterentwickeln und beim Lernen. Und beim Schmunzeln, wenn jemand vor Deiner Nase eine Schublade aufzieht und Du vielleicht kurz hinein blinzelst und Dir dann denkst: Och, nein danke. Ich bleibe lieber anders.
Beste Grüße.
Miriam
*) B. R. Forer: The fallacy of personal validation; a classroom demonstration of gullibility. In: Journal of Abnormal Psychology. Band 44, 1949, S. 118–123